On the road Paris-Brest-Paris – Teil II

Wir sind wieder auf der Strecke. Nach 618 km ist jeder zusätzliche Meter Neuland für meine Beine. Und es fühlt sich erstaunlich gut an. Bei Fichkona war ich die letzten 250 von 620 km mit Knieschmerzen unterwegs. Beim 600er Brevet hatte ich eine harte Nacht durchstehen müssen, in der die Augen nur sehr mühsam offen zu halten waren. Jetzt bin ich munter, hoch motiviert und das Finalgon treibt weiter heißes Blut durch die Knie. Auch der Nacken schmerzt nicht. Meine große Befürchtung war, dass dieser durchs Kopf hoch halten irgendwann streikt. Und die Arme: Das Aufstützen in der gebückten Haltung hatte noch nicht den Trizeps ermüdet. Zugegeben, nach 1 1/2 Stunden Pause wieder in Schwung zu kommen ist nicht so einfach. Die vielen Wechsel von Anstieg und Abfahrt machen es schwer, wieder den Rhythmus zu finden. Nachdem Jochen anfangs für Tempo gesorgt hat, schlägt bei ihm bald erbarmungslos die Müdigkeit zu. Ich entscheide, dass mein Körper noch nicht schlafen will, muss und kann. Mit dem verschwommenen Ziel, vielleicht doch noch die 60 Stunden zu halten, spule ich mit Jochen und ein paar weiteren Fahrern im Windschatten weiter durch die Landschaft. Beim erstbesten Bett und ca. Kilometer 680 trennen wir uns und Jochen legt eine Pause ein. Der Schein trügt. Ich bin nicht so viel fitter. Dass die Schlaflosigkeit der härteste Widersacher ist, wird sich auch mir noch zeigen. Immerhin – ich erfahre im Nachgang, dass selbst Jochen trotz zufallender Augen nicht schlafen konnte. So einfach lässt sich der Körper nicht runterfahren.

Warum ich in Carhaix ganze 25 Minuten pausiert habe, weiß ich nicht mehr. Eigentlich war mein Ziel, auf dem Rückweg die Pausenzeit etwas zu reduzieren. Beim Aufbruch in Brest hatte ich davon bereits 5 Stunden im Gepäck. Auf den 80 km nach Loudec bin ich wieder auf dem Stück mit 550 zähen Höhenmetern. In meinem jugendlichen Leichtsinn und durch leichten Rückenwind euphorisiert strample ich einen 29er Schnitt, wo erfahrene PBP-Finisher etwas von “wer hier 22 fährt ist echt gut” murmeln. Das Adrenalin ist wieder zurück. Ich fliege an anderen Randonneuren vorbei und den sub60 Stunden entgegen. Die Strafe folgt auf dem Fuße. Meine Knie melden sich. Gut 780 km haben sie treu ihren Dienst getan. Nun hatte ich sie scheinbar doch etwas unterkühlt. Ich creme extra sorgfältig mit Finalgon nach und ziehe unter die Beinlinge und 3/4-Hose noch ein paar Fleece-Knielinge.

Weiter geht es mit etwas reduziertem Tempo. Zeitweilig fahre ich mit zwei Belgiern, Jan und Patrick. Sie spulen einen angenehmen Rhythmus. Bei einer Zwischenkontrolle verlieren wir uns wieder. Ich muss meine Knie pflegen. Die Schmerzen haben zugenommen. So richtig verlockend ist es nicht, noch fast 400 km zu radeln. Immerhin, als ich aus der Turnhalle zum abgestellten Rad laufe, ruft mir eine hübsche Französin Mut zu. Das motiviert. Die Durchschnittsgeschwindigkeit klettert sofort auf knapp 27 km/h bis ich bei Kilometer 873 Tinteniac erreiche. Kurze Pause und weiter geht es nach Fougeres. Es ist 22 Uhr und die Henkersmahlzeit vor der Nacht steht an. So richtig Hunger habe ich nicht. Es dieses typische, leicht leere Gefühl im Magen, bei welchem der Anblick von Essen aber unmittelbar zu leicht verkrampften Abwehrreaktionen führt. Ich gönne mir einen Eistee zum Essen, der sich als Bier entpuppt. In meinem Tran denke ich, das sind ohnehin nur Ballaststoffe. Die sind in einer Stunde schon wieder ausgeschwitzt.

Es ist stockdunkel als ich auf’s Rad steige. Bei der Ausfahrt von der Kontrolle muss ich nicht mehr ansagen, ob ich nach Brest oder Paris fahre. Um die Zeit geht es nur noch in eine Richtung. Und es geht mit Rückenwind. Wenn ich den Nachmittag schnell war, dann fliege ich jetzt förmlich. Wenn eine Kurve schlecht einsehbar ist, wird die Lupine auf volle Leistung gestellt und ein Loch in die Nacht gebrannt. Den zweiten (großen) Akku hatte ich letzte Nacht nur 2 Stunden genutzt. Da können noch viele Lithium-Ionen bewegt werden. Aber nicht übertreiben! Eben hat eine Motorradkontrolle zwei Randonneure angehalten, die ohne Licht unterwegs waren. Das gibt zwei Stunden Strafe, wenn ich mich richtig erinnere. Die Warnung, dass sich in der ersten Nacht die Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrer ins Hirn brennen und ziemlich nerven, fand ich übrigens stark übertrieben. Vielleicht hatten die aber auch alle ihre Scheinwerfer gedimmt. Im Augenwinkel sehe ich noch Single-Speeder-Jörg, wie er auf einer Mauer ein Nickerchen macht. Wir hatten uns unterwegs mehrfach in den Kontrollen getroffen. Ich will aber noch weiter fahren. Es fühlt sich gerade so gut an, an den anderen Radlern vorbeizurauschen. Ungläubigkeit und großer Respekt wallt auf, als ich einen Starter überhole, der links nur noch einen Beinstumpf hat. Während er mit diesem in einer Art Korb Halt sucht, tritt er ausschließlich mit dem rechten Bein. In solchen Momenten frage ich mich, ob mein persönliches Paris-Brest-Paris nicht doch nur Spielerei ist. Aber nein – jede PBP Geschichte ist einfach individuell. Eine Ankunftszeit nach 89 Stunden kann beeindruckender sein, als eine von 50 Stunden. Das erinnert mich an zwei Freiburger, die auf einem 600er Brevet sich einfach eine Stunde in den Sonnenaufgang gesetzt haben.

Genauso wie dieser Blog-Abschnitt – es zieht sich. Es zieht sich so lange, dass ich schon zweifle, ob ich noch richtig bin. Schilder, die nach Paris weisen, sind selten. Langsam tritt auch der härteste Gegner auf die Matte: die Müdigkeit. Ich schleppe mich von Hügel zu Hügel. Nicht weil mir die Kraft fehlt. Mir fehlt das Ziel. Als die Müdigkeit schlimmer wird und sogar die ersten Fahrer von hinten auffahren, komme ich in eines der berühmten Dörfer an der Strecke, in denen Anwohner Tische oder Zelte, teilweise sogar Betten aufgebaut haben und die ganze Nacht (kostenlos!) Kekse, Kuchen und Getränke anbieten. Unendlich dankbar trinke ich eine Cola und verweile noch ein wenig – es ist eine tolle fröhlich-gedämpfte Stimmung. Danach mache mich mit etwas mehr Elan wieder auf den Weg.

Um 2:15 Uhr erreiche ich Villaines-la-Juhel. Von einem anfänglichen Schnitt von weit über 30 sind gerade noch 24 km/h übrig geblieben. Ein Vorgeschmack auf die zweite Hälfte der Nacht, denke ich. Da sehe ich plötzlich Jan und Patrick beim Trinkflaschen nachfüllen, welche zusammen mit einem Dänen die letzten Kilometer unterwegs waren. Bingo. Ich haste durch das Depot und wir treffen uns bei ihrem Begleitfahrzeug, um gemeinsam weiter zu fahren. Zu Beginn unterhalten wir uns noch fleißig. Der Däne gibt etwas Anglerlatein über das Race Across America (4800 km non stop) zum Besten, welches er im 4er-Team gefahren ist. Die 4 Fahrer wechseln sich dabei immer ab, müssen dafür aber ca. 7 Tage immer wieder aufs Rad. Ich freue mich, wenn ich in Paris absteigen darf. Mich motiviert, dass er neben mir fährt. Ich bin nämlich 10 Stunden nach ihm gestartet. Mit der Zeit verstummen alle. Jeder kämpft seinen persönlichen Kampf gegen die Schlaflosigkeit. Die Lupine kann ich kaum aufblenden. Wenn jemand vor mir fährt sieht der nur noch seinen eigenen Schatten. Ich würde jetzt gern geblendet werden, um das Gefühl von Tag zu haben. Nun kommen aber leider keine anderen Fahrer mehr von vorn. Ich halte aus Sicherheitsgründen mehr Abstand zum Vordermann. Die Wirkung der Koffeingummis geht jetzt in der zweiten Nacht gegen Null. Meine Augenlider wiegen gefühlt Tonnen. Irgendwann trinke ich den einen Koffein-Shooter, den ich mit habe. Er hilft immerhin für 5 Minuten. Ich stecke mir Musik in die Ohren und lenke mich mit der vorbereiteten Playlist ab. So richtig rocke ich aber nicht. Damit ich von meiner Umgebung etwas mitbekomme, hänge ich schließlich einen Stöpsel an den Kinnriemen vom Helm und behalte nur den zweiten im Ohr. Irgendwann werde ich mich später über ein ausgefranztes Kabel wundern, das an der Gabel baumelt. Ein Grashalm? Erst im nächsten Depot stelle ich schließlich völlig unbeeindruckt fest, dass der Ohrstöpsel aus dem Ohr wohl ins Rad geraten ist. Ich stehe, nein fahre neben mir. Nicht einmal die Knieschmerzen halten anständig wach. Wenn von hinten Licht erscheint, erinnere ich mich immer wieder daran, bewusst rechts zu fahren. Kurz darauf donnert gewöhnlich ein LKW vorbei. Tunnelblick auf den Seitenstreifen. Das klappt gut. Aber nicht zu weit rechts. Hier sammelt dich so schnell keiner im Straßengraben auf. Du könntest ja ein Nickerchen machen.. Die Sekundenschlafattacken sind kurz genug, um nicht auf Abwege zu geraten. Denke ich. Wobei das mit dem Denken auch nicht mehr weit her ist. Mehrfach innerhalb der 40 km zum nächsten Depot berechne ich die Entfernung zum ersehnten Zwischenziel völlig falsch. Mein Gehirn ist im Wunschmodus. An einer Bergkuppe halluziniere ich. Die Rücklichter anderer Starter ca. 500 m vor uns halte ich erstaunlich lange für den Eingang des Depots. Schließlich geht mir enttäuscht doch auf, dass es noch ganze 20 km sind. 48 Stunden ohne Schlaf zollen mächtig Tribut. Ich ignoriere den Gedanken, dass ich meinen Körper zwar schon rund 40 Stunden wach gehalten, dies aber nie mit körperlichen Strapazen verbunden habe. Was soll’s, der Kreislauf läuft wie ein Schiffsdiesel..

In der Dämmerung um halb 7 erreichen wir endlich nach 1097 Kilometern Motagne au Perche. Aufatmen. Gleich geht die Sonne auf und vertreibt die Müdigkeit. Ich gehe mir eine Cola für unterwegs kaufen und bestelle einen Kaffee. Hier gibt es nicht Tassen sondern Schüsseln voll dieses Lebenselixiers. Das zeugt von einer präzisen Analyse der letzten PBPs. Ich nehme die gereichte Schüssel schwarzen Getränks unendlich dankbar entgegen, gehe drei Schritte, um sie auf dem Tresen abzustellen, höre ein Scheppern, merke unbeteiligt, dass etwas nicht stimmt, und blicke in eine Kaffeelache gespickt mit Porzellansplittern. Als ich realisiere, dass dies wohl meine Tasse war, ist der Mann, der sie mir soeben lächelnd gereicht hatte, schon dabei mir eine neue zu füllen. Er lehnt die Bezahlung des zweiten Kaffees strikt ab. Immerhin bekomme ich diesen heile in den Magen. Spätestens jetzt haben sich die mehr als 2000 freiwilligen Helfer des PBP ein Denkmal verdient. Es ist beeindruckend, mit welcher Ausdauer sie im Schichtdienst 3 Tage für uns Fahrer da sind, teilweise im Regen stehen und mit ihrem ehrlichen “Bonne Rute” und einem Lächeln Motivation spenden. Beim Aufsteigen aufs Rad merke ich, dass ich die letzten Stunden eigentlich zu wenig gegessen habe. Vielleicht auch ein Grund für die nur gut 21 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit. Ich schiebe mir einen Riegel rein und mit neuem Elan geht es gen Paris. Die Augenlider verlieren an Gewicht und an den Anstiegen fährt mein Kreislauf wieder hoch. Bald habe ich Jan und Patrick wieder eingeholt. Gemeinsam rollen wir dem Ziel entgegen. 140 km. Das klingt plötzlich nach einem Katzensprung. Als es flacher wird, kreisel ich das erste Mal in meinem Leben mit echten Belgiern im Belgischen Kreisel. Wir sind alle auf Sub-60-Stunden Kurs (Jan und Patrick waren eine halbe Stunde nach mir gestartet.) und die Beine fühlen sich gut an. Bis auf die Knie.

In Dreux machen wir eine kurze Pause. Meine Verdauung schien auf der gesamten Rückfahrt ziemlich intakt, denn muss nur dieses eine Mal länger die Toilette aufsuchen. Bestimmt der viele Kaffee. Von Toiletten gibt es an den meisten Kontrollen nur zwei, was aber nicht schlimm ist, da der Körper gewöhnlich den Dickdarm auf Standby stellt und alle Nährstoffe aus der Nahrung quetscht. Eine Cola und Banane zum zweiten Frühstück und weiter gehts. Die letzten 65 km ziehen sich. Immerhin bei Sonne. Der Wind ist wechselhaft. Ich fahre inzwischen teilweise im Stehen. Nicht, dass mein Hintern schwächelt. Aber jedes Bein anwinkeln erzeugt einen stechenden Schmerz im Knie. Dazu kommt, dass inzwischen meine Füße vom Wasser etwas aufgequollen sind. Unter den Überschuhen waren die Verschlüsse der Schuhe schlecht erreichbar und ich hatte sie nicht rechtzeitig geöffnet. Meine Fußballen waren nun so zusammengepresst worden, dass mich die Schmerzen der Knochenhaut noch tagelang daran erinnern würden. Immerhin – mein Joghurt-Müsliriegel ist eine Wohltat. Auch die simplen Müsliriegel vom Discounter sind so ein Genuss, dass ich mich frage, warum ich eigentlich das teure Zeugs an Energieriegeln mitgeschleppt habe. Egal, ich stelle zufrieden fest, dass ich keine Ernährungsprobleme auf der Tour hatte. Und ich habe bis auf wenige Riegel und ein Gel alles aufgegessen. Während der letzten Kilometer ist nun kein Platz für Ernährungswissenschaften. Die Stimmung grenzt an ausgelassen. Wir sind längst gewiss, dass die 60 Stunden kein Problem mehr darstellen. Allein die Ampeln sind recht nervig und reizen das müde Hirn doch etwas. Jetzt ist das Ziel näher als der Weg und jede der geschätzt 15 Ampeln ist rot. Trotzdem. Nach 55 1/2 Stunden, davon 8 Stunden Pause, erreiche ich nach 1241 km Paris. Der Tacho zeigt zwar 1230 km, offiziell sind es dieses Jahr bei der Streckenführung aber 1241. Die Tour de France hatte dieses Jahr 3430 km. Nur nicht in einer, sondern in 21 Etappen. Am Ziel stehen um diese Mittagszeit vielleicht 100-200 Zuschauer an den Banden. Volksfeststimmung findet man eher bei einer Jedermannsradveranstaltung wie der Vätternrundan. Es gibt eine große Metallplakette. Sieht aus wie ein Silberbarren. Sie bekommt mit dem Chip, den ich behalten darf, einen Ehrenplatz. Leicht watschelnd geben wir unsere Stempelbücher ab und treffen uns im Zelt. Festes Essen überfordert uns jetzt bestimmt. Wir beschränken uns auf Flüssignahrung. Meine Freundin bringt mich irgendwann zum Zug, wo mein Kreislauf anfängt, richtig runter zu fahren. Sie wird später behaupten, ich wäre verpeilt und hilflos wie ein kleines Kind gewesen. Dem muss ich wehement widersprechen. Immerhin finde ich mit dem GPS in Paris vom Zug zur Pension. Auf den paar Kilometern hoffe ich, dass mich die Polizei nicht anhält, denn die mögliche Feststellung, dass von mir die Geruchswelt eines Penners (das politisch korrekte Wort leitet hier in die Irre!) ausgeht und ich mit Fahne am Rande der Überforderung wandel, ist dann doch nicht von der Hand zu weisen. Weiter kann ich aber nicht denken. Alles tut weh und das Hauptstadtpflaster macht es nicht besser.

 

 

Unter der Dusche in der Pension zurück belächele ich nur, dass mich ein schreiendes Kind vom Schlafen abhalten könnte. Noch ein Gedanke daran, dass mich im Zug eine scheinbar unbeteiligte Französin angesprochen hatte, ob ich PBP gefahren wäre und an die anschließende ernsthafte Gratulation. Irgendetwas Magisches hat PBP doch. Und dann fallen die Augen zu…

denlinne

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