On the road Paris-Brest-Paris – Teil I

Der Wecker klingelt um 3:20 Uhr. Ich bin schlagartig wach, obwohl ich mich bis 23 Uhr im schweißgebadeten Bett hin und her gewälzt habe. Selbst um diese Uhrzeit ist reger Verkehr auf der Straße vor dem Hotel. Toilette. Duschen. Knie und Waden einölen. Das in die Plastikzahnputzbecher abgefüllte Duschbad und Massageöl sieht aus wie im Chemielabor. Aber schließlich hätte ich die Behältnisse jetzt wegwerfen müssen. Alles, was ich nicht mit nach Brest nehme wandert in den Müll. Jetzt noch Vaseline aufs Gesäß und anziehen. Beim ersten Kohlenhydratgetränk stelle ich fest, wie die Zeit verfliegt. Um 4 will ich mich mit anderen Startern vor dem Hotel treffen.. Schnell noch eine Cola zum munter werden und zwei geschmierte Brötchen hinunterstürzen und -schlingen. Schön fettiger Camembert. Mein Körper wird viel Zeit haben, den zu verdauen. Den Code für die Zimmertür fische ich wieder aus dem Mülleimer. Vielleicht vergesse ich ja etwas im Zimmer. Optionen offen halten ist mein Motto. Ankommen tut nur, wer immer eine Alternative parat hat.

Die 6 km zum Start rollen sich gut. Adrenalin ist alles. Müdigkeit und das Ziehen im Nacken bei jeder Kopfdrehung lassen mich aber zu der Gewissheit kommen, dass ich meinem Körper unterwegs doch mehr Ruhe gönnen muss. Nach kurzem Telefonat mit Jochen treffen wir uns im ersten Drittel des Starterfeldes. Morgens 4:30 Uhr sind die Temperaturen angenehm und wir müssen nicht wie die gestrigen Starter auf Dehydrierung achten. Kurz vor fünf geht gerät Bewegung in die Menge. Wir laufen durch die Kontrolle und bekommen den ersten Stempel ins Brevet-Heft. Jetzt wird’s Ernst. Das Adrenalin verdrängt jetzt endgültig die Müdigkeit. Das Feld staut sich hinter der Kontrolle am offiziellen Start. Neben uns packt jemand noch seine Flasche um, von der Hintertasche auf den Vordergepäckträger. Gute Idee, denke ich noch. Hinten erweckte sie nicht den Eindruck, mehr als eine Bodenwelle am Rad zu überstehen. Und die Lampe sieht lustig aus, wie sie durch den Flaschenboden die nach vorn gerichtete Flasche erhellt.

4:59 Uhr. Start. Die Masse setzt sich in Bewegung. Es ist ein recht chaotischer Haufen. Da die schnelleren Starter sich vorne gruppieren werden, überholen wir, bis das in Paris eingesetzte Führungsfahrzeug in Sichtweite kommt. Als sich dieses absetzt, wird es hektisch. Wie eine Zieharmonika arbeitet das Feld an Kreisverkehren und Anstiegen. Im Augenwinkel sehe ich dann, wie eine Flasche auf die Straße fällt und vor mein Vorderrad rollt. Es ist die Flasche, die sich so nett beleuchtet auf dem vorderen Gepäckträgers des einen Starters befand. Ich verfluche diesen, verkrampfe mich im Lenker und hopple halb springend mit dem Vorderrad über die Flasche. Glück gehabt. Konzentrier dich!

Unser Plan war, einigermaßen ruhig bis Brest zu fahren. Als Jochen und ich bemerken, wie sich der eigene Puls langsam erhöht, entschließen wir uns, das Feld ziehen zu lassen. Wir verzichten damit sicher auf 2-3 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit, die man im Pulk schneller fährt, aber die Devise heißt ankommen und die goldene Regel: Fahre deinen eigenen Rhythmus! Die ersten 140 km laufen gut und haben, während wir neben einander fahren und uns ausgiebig unterhalten, noch den Charakter einer Freizeittour. Der Gedanke motiviert, dass die Distanz für die meisten sogar für eine lange Tagesradtour zu weit wäre, und für uns gerade die zweite Frühstückszeit anbricht. Zwei-drei Anläufe scheitern, mit anderen eingeholten Fahrern eine Gruppe zu bilden, weil sie zu ungleichmäßig kurbeln. Irgendwann stoßen wir auf drei weitere Starter, darunter der Bayer Gernot, welcher ziemlich genau unseren Schuh fährt. Er hat bereits die erste Geschichte im Gepäck, die solche Langstrecken so legendär machen. Er war bereits am Sonntag Nachmittag gestartet, jedoch ist ihm nach wenigen Kilomentern jemand bei einem Bremsmanöver des Pulks ans Schaltwerk gerammt, so dass das Schaltauge abbrach. Nachdem ihn ein Zuschauer wieder zurück zum Start chauffiert hatte, hatte er nach einigem Hin und Her das Rad seiner Frau so gut es ging auf seine Sitzposition einstellen lassen. Der längere Vorbau konnte natürlich nicht ganz den 4 cm kleineren Rahmen kompensieren. Aber schließlich fühlte er sich nach seinem erneuten Start an diesem Morgen und nun mehr als 100 km gefahrenen ganz wohl auf dem Ersatzrad.

Bei Kilometer 140 machen wir gegen 9:30 Uhr einen kurzen Stop in einer unangekündigten Kontrolle mit Zwischenverpflegung. Nach 13 Minuten und einem belegten Baguette (davon werde ich noch einige genießen) waren wir wieder auf der Strecke. Viel schneller wird man die Kontrollen nicht passieren können. Man läuft zunächst einige Meter vom abgestellten Rad bis zum Gebäude, passiert die Chip-Zeitnahme und steht mehr oder weniger Schlange, um seinen Stempel abzuholen. Danach heißt es Trinkflaschen nachfüllen und ggf. watschelt man zu einem weiteren Gebäude, wo Verpflegung erworben werden kann. Der Klickmechanismus der Rennradschuhe fühlt sich an als liefe man mit Absatz unter dem Vorderfuß.

Auf den 81 km nach Villaines-la-Juhel stellt sich langsam Normalität ein. Das Adrenalin ist verflogen, da sich die Zuschauerzahlen am Wegesrand doch in Grenzen hält. Die Meldungen vom Körper, dass die anfängliche hektische Fahrweise Kraft gekostet hat und das Profil tatsächlich wie angekündigt zäh und hügelig ist, dringt langsam in den Kopf durch. Wir spulen gleichmäßig vor uns hin. Immerhin hätten wir bei einem 300er Brevet schon mehr als die Hälfte geschafft. Zum jetzigen Zeitpunkt lehne ich innerlich jeden Trieb ab, auszurechnen, welcher Teil der Strecke schon bzw. erst hinter mir liegt. Ich stelle fest, dass man PBP nicht aufgrund der Landschaft fahren muss. Die Vielfalt ist begrenzt. Oder ich bin diese Landschaft einfach zu sehr aus meiner Kindheit gewöhnt. Da werde ich auf den Nachtfahren nicht viel verpassen. Und noch etwas stelle ich fest. Meine Nackenschmerzen sind weg. Sie werden am Tag nach meiner Rückkehr in Paris wiederkehren. Da sage noch mal jemand, Rad fahren sei nicht gut für die Gesundheit…

Zwischen Villaines-la-Juhel und Fougeres, ungefähr bei Kilometer 295, kommt das Adrenalin schlagartig zurück. Es wurde laut über eine Pinkelpause nachgedacht und vorne angefangen zu bremsen. Plötzlich kracht es hinter mir. Ich spüre einen Ruck nach links und Jochen rumpelt in den Straßengraben. Da wir wegen Wind schräg versetzt gefahren waren und beim Bremsen jeder nach rechts ausweichen muss, hatten seine Vorderradspeichen auf mein Schaltwerk gedroschen und er war auf Abwege gegangen. Irgendwie kommt mir der Vorfall bekannt vor. Schnell das Schaltwerk überprüfen. Aufatmen. Bis auf ein paar abgeschliffene Carbonlagen keine merklichen Schäden. Und Jochen? Das Vorderrad hatte nur einen leichten Achter, der in Fougeres auszentriert wird. Wir beginnen nun, die ersten Starter vom Sonntag einzuholen. Kein gutes Zeichen für diese. Immerhin hatten sie je nach Startzeit zwischen 7 und 11 Stunden Vorsprung. Sie würden von Kontrolle zu Kontrolle um jede Minute kämpfen müssen, um nicht aus dem Zeitlimit zu fallen, was für jede Station definiert ist. Jeder Defekt, jede Viertelstunde Powernap würde zur Gefahr fürs Meistern des Brevets. An einer Kontrolle erlebe ich später noch mit, wie ein Teilnehmer versucht, um 10 Minuten zu feilschen, die ihm fehlen. Zugegeben – als er die freiwilligen Helfer mit den Stempeln aufhällt und eine – wenn auch kurze – Warteschlange provoziert, kommt bei mir tatsächlich leichte Ungeduld hoch. In meinem Kopf tickt die Uhr für meine Zielzeit unter 60 Stunden und noch geht alles nach Plan.

   

Hinter Fougeres rollen wir auf einen schräg auf der Fahrbahn stehenden Laster zu. Einige Randonneure geben uns Zeichen, langsam zu fahren. Es ist der erste schwere “very bad” Unfall mit einem Teilnehmer auf der Strecke. Wir schärfen noch einmal unsere Konzentration und sprechen noch einmal das Selbstverständliche ab, jedes Hindernis anzusagen. Schließlich würden die geistigen Dämmerzustände zunehmen. Die Strecke von der Kontrolle in Fougeres nach Tinteniac beträgt zwar nur 55 km, dort angekommen entschließen wir uns aber für eine längere Pause mit Pasta. Es ist 19:37 Uhr. Abendbrotzeit. Jochen hatte auf der Etappe erste Ernährungsschwierigkeiten. Er fährt mit einer zu mir konträren Ernährungsstrategie. Ich bin “nur auf Zucker” unterwegs bin und muss “einfach” mit Kohlenhydratgetränk und Riegeln den Blutzuckerspiegel halten und schiebe mir zwischendurch nur zur Abwechslung und zum Verwöhnen des Magens etwas Herzhaftes ein. Jochen dagegen fährt auf Fettverbrennung, die er durchs Kohlenhydratgetränk nur ankurbelt. Langsam verbrennt der Körper aber nicht mehr genug Fett. Jochen musste anfangen, sich Riegel reinzuquälen und ist auf vollwertige regelmäßige Nahrung angewiesen.

Trotz der Stärkung fällt unsere Geschwindigkeit auf den nächsten 86 km nach Loudaec unter 27 km/h. Die Müdigkeit fängt an, Gernot zuzusetzen. Er hatte die letzte Nacht vor dem Neustart natürlich nicht viel geschlafen. Wir legen eine volle Stunde Pause ein. Draußen ist es unwirtlich. Nachdem wir in Paris auf nasser Straße aber ohne Wasser von oben gestartet waren, hatte sich das Wetter zunächst ganz gut gehalten. Die Erinnerungen, wann es genau mit dem Duschen anfing, sind ausgewaschen. Jörg K. hat eine zweistellige Zahl an Gewittern gezählt, meist mit spannenden Blitzen gepaart, und ich sehe mich noch im letzten Depot vor Brest etwas von 500 km Regen brummeln. Andere hatten sich da bereits festgelegt, auf der Hälfte nach Brest bereits mehr Wasser gesehen zu haben als im Unwetterjahr 2007 auf der gesamten Strecke. Auch wenn dies später von anderen Startern relativiert wurde – wir versicheren uns gegenseitig, richige Helden zu sein und schreiben gedanklich Dankesbriefe an die Hersteller der Wind- und Regenbekleidung. Sachsen-Olaf, den wir in Loudaec treffen und der am Sonntag gestartet war, berichtet nur von der Hitze am Start. So unterschiedlich kann ein Brevet verlaufen…

Es ist 23:20 Uhr. Auf der Strecke nach Carhaix-Plouguer sind wir, wie von Olaf angekündigt, auf dem bissigsten Stück mit den meisten Anstiegen. Dazu sollte auch die Müdigkeit langsam in den Ring steigen. Ich fühle mich noch erstaunlich munter, bei Jochen und Gernot macht sie sich stärker bemerkbar. Gernot müssen wir schließlich um 1 Uhr im Vorraum einer Bank beim Geldautomaten zurücklassen. Er ergattert nur noch den Platz direkt vor der automatischen Schiebetür, da die besten Teppichstellen bereits belegt sind.

   

Immerhin ist dies die bessere Option verglichen mit den zunehmend im Straßenrand Schlaf suchenden Randonneuren. Wie man sich auf der kalten Erde erholen können soll, ist mir immer noch ein Rätsel. Schließlich erreichen wir mit einem Schnitt von nur noch knapp 23 km/h Carhaix, wo wir Urban auf seinem Rückweg treffen. Da er Knieprobleme hat, biete ich ihm Finalgon an. Mit der Creme bearbeite ich meine Knie vorsorglich bereits seit einigen Kontrollstellen. Durch die nassen Knielinge kühlen die Knie trotz Windstopper doch etwas aus. Überhaupt ist seit einigen hundert Kilometern ohnehin alles nass – egal ob man Regenkleidung oder nur Windbreaker trägt. Finalgon “stark” sorgt (mit neuem Namen) seit den 1950ern für die richtige Durchblutung und ein leicht brennendes aber angenehmes Gefühl. Wir essen noch einmal etwas Richtiges und machen uns nach 45 Minuten erneut auf den Weg.

   

Nach jeweils einigem Warten am Straßenrand und zwei Telefonaten finden Jochen und ich wieder zu einander, um die Fahrt gemeinsam fortzusetzen. Gar nicht so einfach, sich nachts zu koordinieren, wenn man keine exakten Treffpunkte vereinbart oder man plötzlich meint, der andere wäre schon losgefahren. Wie aus alten Berichten bekannt: Die 92 km nach Brest ziehen sich! Vor allem, wenn der Fahrschnitt nur 22,5 km/h beträgt. Immer wieder bin ich beim Blick auf den Kilometerstand überrascht, wie wenig wir vorwärts kommen. Schließlich zeigt sich aber doch die Brücke Pont de l’Iroise über die Atlantikbucht.

   

Wir genießen kurz den Blick und erklimmen den Anstieg zur Kontrolle, bei welcher man die Hälfte der 1240 km überschritten hat. Ich überlege kurz, ob wir in einer Brasserie Halt machen sollen, die kurz vor halb 8 bereits offen hat, entschließe mich aber dagegen. Die Kontrolle ruft. Wir sind bereits 26 1/2 Stunden unterwegs. Die 60-Stunden-Marke beginnt in meinem Kopf zu wackeln. Erstaunlicherweise ist die Verpflegung in Brest sehr minimalistisch und beschäftigt uns nicht lange. Jochens Idee, sich etwas hinzulegen, kann ich nicht viel abgewinnen. Ich fühle mich munter, habe die letzte Nacht nur zwei Koffein-Gummitiere gegessen. Davon habe ich noch 4 volle Tütchen mit je 6 Stück! Mein Plan war, mir den kommenden Nachmittag oder / und in der nächsten Nacht Ruhe zu gönnen. Wir entschließen uns immerhin, zu duschen. Eine Wonne! Dafür hatte ich Duschbad und einen Waschlappen zum Abtrocknen im Gepäck. Ich nehme aber doch dankbar die Luxusvariante an, krame nicht lange in meiner Satteltasche und greife bei angebotenem Handtuch und Duschbad zu. Der kleine Aufpreis macht den Kohl nicht fett – das Bargeld wird schon reichen. Ich werde auf der Strecke ca. 60 Euro für Baguettes, Nudeln, Bananen usw. ausgeben. In der Dusche fällt mir ein, dass ich noch schnell ein Foto machen will, bevor ich den Dreck aus dem Gesicht wasche. Vielleicht ist es aber auch besser so, dass die beschlagene Linse meiner Handykamera nicht mehr Details preisgibt.

   

Im Gegensatz zu Jochen ziehe ich dieselbe Radhose wieder an und begnüge mich mit neuer Vaseline. Die zweite lasse ich in der Satteltasche, um sie später ggf. zusätzlich drüberzuziehen. Später werde ich mich fragen, ob dies grob fahrlässig war. Andere Starter waren selbst nach dem Wechsel auf eine frische Hose noch erheblichen Sitzbeschwerden ausgesetzt und mussten in einem Fall gar das Rennen mit Eiterbeule abbrechen. Da habe ich oder zumindest hatte scheinbar Glück mit meinem Gesäß. Zum Abschluss noch eine Cola, um den Körper in Gang zu bekommen und weiter geht’s. Es ist Punkt 9 Uhr, 28 Stunden nach dem Start. Angesichts des normalen Leistungsabfalls auf einer Langstrecke muss der Rückweg jetzt super laufen, damit die 60 Stunden zu halten sind…

Bald geht’s weiter. Bis dann,

denlinne

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *